Die Unternehmen der Versorgungswirtschaft stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, junge Menschen für eine Tätigkeit in dieser Branche zu begeistern. Über die Frage, wie das gelingen kann, wie Unternehmen sich als Marke positionieren können und wie eine sinnhafte und erfüllende Arbeit mit Aspekten der Work-Life-Balance zu vereinbaren ist, hat unsere Schwesterredaktion der „DVGW energie | wasser-praxis“ mit Dr. Wolf Merkel, hauptamtlicher DVGW-Vorstand für das Ressort Wasser, Nathalie Leroy, Sprecherin der Geschäftsführung von HAMBURG WASSER, und Udo Dehne, Betriebsleiter des Wasserwerks der Stadt Schwabmünchen, diskutiert.
Wolf Merkel: Die Umfrage im Jahr 2019 war bereits die zweite in dieser Richtung. Auslöser war ein Update zu den Themen Fachkräfterecruiting und Fachkräftemangel. Der Fokus lag auf den Fragen „Was sind die Besonderheiten für die Versorgungsunternehmen im Gas- und Wasserbereich?“, „Was sind die Perspektiven in den nächsten fünf Jahren?“ und „Wie kann der DVGW seine Mitgliedsunternehmen unterstützen?“.
85 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass das Thema Fachkräftemangel existenziell für die eigene Zukunft ist; es wurde sogar als wichtigstes Zukunftsthema noch vor den Bereichen Digitalisierung und IT-Sicherheit genannt.
Der Schwerpunkt wird dabei insbesondere bei den technisch-gewerblichen Berufen gesehen: In fünf Jahren erwarten 94 Prozent der befragten Versorgungsunternehmen eine Mangelsituation. Über die Hälfte der Unternehmen gehen außerdem von einer schwierigen Situation in Bezug auf erfahrene Führungskräfte aus. Zum Zeitpunkt der Abfrage lag die Schätzung bei insgesamt etwa 6.000 neu zu besetzenden bzw. freiwerdenden Stellen im Jahr. Diese wird sich bis zum Jahr 2025 auf jährlich insgesamt rund 10.000 Stellen erhöhen – nur in der Versorgungswirtschaft!
Die Zahlen und Aussagen unterstreichen, welche Bedeutung das Thema schon jetzt für die befragten Unternehmen hat und wie ernst die Situation eingeschätzt wird.
85 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass das Thema Fachkräftemangel existenziell für die eigene Zukunft ist; es wurde sogar als wichtigstes Zukunftsthema noch vor den Bereichen Digitalisierung und IT-Sicherheit genannt.
Dr. Wolf Merkel
DVGW Vorstand Ressort Wasser
Nathalie Leroy: Ich kann die Aussagen der DVGW-Studie bestätigen, viele Erkenntnisse treffen auch auf unser Haus zu. Bei HAMBURG WASSER haben wir rund 2.300 Mitarbeitende, davon sind etwa 1.000 in der Wassersparte tätig. Gleichzeitig haben wir einen hohen Altersdurchschnitt in der Belegschaft, er liegt zwischen 45 und 50 Jahren, dies korreliert mit dem demografischen Wandel in Deutschland. Bis zum Jahr 2030 werden uns insgesamt voraussichtlich rund 900 Beschäftigte altersbedingt verlassen, das entspricht ungefähr 40 Prozent der Belegschaft.
Tatsächlich gibt es bei uns im Kontext der Digitalisierung einen Wandel der Berufe, deshalb werden wir nicht alle freiwerdenden Stellen eins zu eins nachbesetzen. Trotzdem suchen wir bis zum Jahr 2030 ungefähr 700 neue Beschäftigte. Wir müssen also bereits heute sicherstellen, dass wir die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt an Bord haben.
Das Dilemma des Arbeitsmarktes wird auch in der Gas- und Wasserversorgungsbranche augenscheinlich: In beiden Branchen ist die Gruppe der über 55-jährigen mehr als dreimal so groß wie die Gruppe der unter 25-jährigen. Gesamtwirtschaftlich liegt das Verhältnis bei 1:2, d. h. die Gruppe der über 55-jährigen ist doppelt so groß wie die Gruppe der unter 25-jährigen. Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2018, eigene Berechnungen und Darstellung durch die GWS
Udo Dehne: Tatsächlich suchen wir noch. Wir haben die Stelle seit Anfang Mai ausgeschrieben, sowohl in den Fachmedien als auch in der örtlichen Presse und im Internet. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist derzeit leider noch suboptimal: Wir erhalten zwar Bewerbungen, fachlich-qualitativ passen sie bisher jedoch nicht.
Wir bemerken nicht einmal die Auswirkungen der Corona-Krise, die uns geeignete Bewerberinnen und Bewerber eigentlich ins Haus spülen könnte. Ich bin deshalb nicht sehr optimistisch, dass wir in diesem Jahr noch ein Bewerbungsgespräch führen können.
Wir bemerken keine Auswirkungen der Corona-Krise, die uns geeignete Bewerberinnen und Bewerber eigentlich ins Haus spülen könnte.
Udo Dehne
Wassermeister Stadt Schwabmünchen
Dehne: Wir sind – und da müssen wir uns an die eigene Nase fassen – in diesem Bereich noch nicht wirklich gut aufgestellt. In der Vergangenheit war es so, dass die Stadt Schwabmünchen als Mittelzentrum mit einem relativ großen Umland im Bereich der kaufmännischen oder verwaltungstechnischen Tätigkeiten immer ausreichend Bewerbungen auf die ausgeschriebenen Stellen erhalten hat. Selbst bei dem in Bayern recht niedrigen Lohnniveau gab es auch immer wieder Berufsrückkehrer und Wiedereinsteiger, die sich gemeldet haben.
Leider haben wir es aber versäumt, uns die Situation in den fachspezifischen Bereichen genauer anzusehen. Im handwerklichen Bereich findet man noch Leute, aber wenn es um die Spezial- und Nischenberufe im Bereich Wasser und Abwasser geht, sieht es schlecht aus. Da haben wir uns in den letzten Jahren tatsächlich etwas versteckt, weil bei uns – rein subjektiv – das Gefühl vorherrschte, noch keinen Bedarf zu haben. Wenn wir uns aber objektiv die Zahlen anschauen, geht es uns wie in Hamburg: Der Altersdurchschnitt ist der gleiche, der Bedarf liegt in Relation genauso hoch, nämlich bei ungefähr 30 Prozent.
Die Suche nach einem Wassermeister haben wir zugegeben etwas unterschätzt. Ich kann dafür auch Gründe nennen: Die Menschen hier in der Region sind erstens recht satt, zweitens etwas unflexibel und drittens hat sich die Work-Life-Balance zu unseren Ungunsten verschoben. Das sind die Kernpunkte, die uns keine neuen Bewerberinnen und Bewerber mehr bescheren.
Wir müssen alle Kanäle bespielen und bei der Positionierung der eigenen Arbeitgebermarke und der Bekanntmachung des eigenen Unternehmens offensiver werden.
Nathalie Leroy
Kaufmännische Geschäftsführerin und Sprecherin der Geschäftsführung von HAMBURG WASSER
Leroy: Diese Beschreibung verdeutlicht sehr gut den Wandel im Arbeitsmarkt, den auch wir spüren. Wir haben in Hamburg zwar das Glück einer sehr attraktiven Stadt, trotzdem nehmen wir einen riesigen Unterschied wahr im Vergleich zu früheren Jahren.
Wir haben vor geraumer Zeit bemerkt, dass sich etwas verändert und reagieren darauf bereits seit drei bis vier Jahren. Die Tatsache, dass die Bewerbenden heute ganz andere Anforderungen stellen und auch ganz andere Erwartungen haben, bedeutet für mich, dass wir uns als Arbeitgeber verändern und aktiv werden müssen. Das ist zwar nicht einfach, aber es ist der einzige Weg, alles andere wird nicht helfen. Wir müssen daher alle Kanäle bespielen und bei der Positionierung der eigenen Arbeitgebermarke und der Bekanntmachung des eigenen Unternehmens offensiver werden. Gleichwohl haben wir es seit ein paar Jahren mit einem Bewerbermarkt zu tun, und das wird sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern.
Leroy: Vor etwa fünf Jahren haben wir aufgrund der Altersstruktur der Belegschaft erkannt, dass wir mit einer riesigen demografischen Welle konfrontiert werden. Gleichzeitig haben sich sinkende Bewerbungszahlen abgezeichnet. Wir waren es bis vor sechs oder sieben Jahren gewohnt, dass sich auf zehn ausgeschriebene Azubi-Stellen bis zu 500 Interessenten gemeldet haben, in der Mehrheit gute Leute. In dieser Hinsicht waren wir sehr verwöhnt.
Seitdem haben wir sehr viel Geld investiert und Personal rekrutiert, um überhaupt in der Lage zu sein, die von mir skizzierte Welle zu meistern. So haben wir z. B. das Recruiting-System stark professionalisiert, indem wir aktiv Headhunting betreiben und Mitarbeitende anderer Unternehmen ansprechen, um diese abzuwerben. Unser in diesem Bereich tätiges Team ist ständig auf den entsprechenden Plattformen unterwegs, um Fachkräfte zu suchen, die zu uns passen.
Zudem haben wir seit dem letzten Jahr in unserer Recruiting-Abteilung ein eigenes Team mit drei Mitarbeitenden, das sich intensiv und ausschließlich mit der Frage befasst „Was verbinden die Menschen mit unserem Unternehmen und mit welchem Image wollen wir uns als Arbeitgeber gegenüber den Zielgruppen positionieren?“ Dabei haben wir eine große und gezielte Arbeitgeberkampagne auf den Weg gebracht.
Das bedeutet nicht, dass jederzeit in ganz Hamburg Plakate von uns hängen, auf denen sich HAMBURG WASSER als guter Arbeitgeber präsentiert. Vielmehr sind wir auf Rekrutierungs- und Ausbildungsmessen sowie in den sozialen Medien sehr aktiv. Wir bemerken bei der im Frühjahr 2020 gestarteten Kampagne, dass wir auf unserem Karriereportal doppelt so viele Klicks haben wie zuvor; die Kampagne wirkt also.
Darüber hinaus sprechen wir mittlerweile gezielt Gruppen an, die bisher nicht im Recruiting-Fokus waren: Vor zwei Jahren haben wir beispielsweise das Thema „Frauen für technische Berufe begeistern“ lanciert und damit erste Erfolge erzielt. Seitdem konnten wir bereits in zwei aufeinander folgenden Jahren mehrere weibliche Azubis für gewerbliche Berufe gewinnen– und das ziemlich unerwartet. Auf die gleiche Weise wollen wir in Zukunft neue Gruppen ansprechen und erschließen, um Personal zu rekrutieren. Gleichwohl gilt: Es ist noch ein langer Weg.
Wir sind raus: 2019 haben 6.312 Mitarbeiter*innen altersbedingt die Unternehmen verlassen. 2025 sind es bereits 9.510 Mitarbeiter*innen! Insgesamt verlieren die UNternehmen der Energie- und Wasserversorgungsbranche zwischen 2019 und 2025 rund 57.000 Fachkräfte. Quelle: Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnungen und Darstellung durch die GWS
Merkel: Bei der Frage, wie man an junge Nachwuchskräfte herankommt, kann ich auf das Ergebnis unserer Befragung der DVGW-Hochschulgruppen verweisen. Das betrifft in erster Linie den Bereich der Ingenieure und akademisch ausgebildeten Nachwuchskräfte. Die Versorgungsbranche hat in diesem Bereich in der Vergangenheit immer mit der Sicherheit der Arbeitsplätze geworben und dieses Argument in den Vordergrund gestellt. Das besagte Argument ist natürlich – insbesondere in der Corona-Krise – weiterhin zutreffend und auch in Zukunft gültig, denn wie heißt es so schön: „Geduscht und geheizt wird immer“.
Bei der Befragung haben die jungen Studierenden gleichwohl nicht diesen Aspekt an erster Stelle genannt, sondern das Thema „Erfüllung im Beruf“. Junge Menschen aus dieser Gruppe suchen eine berufliche Tätigkeit, in der sie etwas bewegen können und die auf Schwerpunkte wie Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit gerichtet ist.
Gleichzeitig möchte diese Zielgruppe Teil eines Unternehmens sein, das eine Veränderung mitmacht, z. B. bei der Energiewende. Diese Themen sind allesamt ein großer Motivator, da die jungen Leute realisieren, dass die Zukunft davon abhängt. Es empfiehlt sich also, die Versorgungsbranche nicht nur als einen sicheren, sondern auch als einen in die Zukunft schauenden Arbeitgeber zu bewerben, der die relevanten gesamtgesellschaftlichen Themen in der Bearbeitung hat – mit Beteiligungsmöglichkeiten für die Nachwuchskräfte.
Dehne: Dazu muss ich zunächst unsere allgemeine Situation erläutern, die aus mehreren Faktoren besteht. Erstens: Wir sind ein kommunaler Eigenbetrieb, bei uns gilt ein Tarifvertrag, dessen Gehaltsgruppen mit denen eines Versorgungstarifvertrags nicht mithalten können. Zweitens sprechen wir hier in der Regel nicht von Ingenieuren oder Technikern, sondern von Fachkräften bzw. Facharbeitern, bestenfalls Meistern.
Die Motivation, in einem Beruf aufzugehen, etwas mit Herz und Seele zu tun und dabei auch noch Gutes zu bewirken, kommt auch bei uns zum Tragen. Dies ist aber immer mit einem Bereitschaftsdienst verbunden. Und ein solcher Bereitschaftsdienst ist für die Work-Life-Balance eher suboptimal. Gleichzeitig sind die Aufstiegsmöglichkeiten in einem kleinen Unternehmen wie dem unseren kaum erwähnenswert. Wenn wir also auf der von uns höchsten, vollstellbaren Ebene einen Mitarbeiter suchen, so ist die Stelle mit sehr viel Verantwortung, dem erwähnten Bereitschaftsdienst und dem vergleichsweise geringen Gehalt verbunden.
Ein Standortvorteil wäre es, wenn wir in einer großen Stadt einen sicheren Arbeitsplatz bieten würden. Wir sind hier aber auf dem Land und haben im näheren Umkreis drei große Industrieunternehmen, von denen zwei als Hersteller von medizinischen Produkten derzeit erheblich von der Corona-Pandemie profitieren und deshalb die spärlich vorhandenen Arbeitskräfte vom Markt fischen.
Hinzu kommt: In dem Alter, in dem sich die Nachwuchskräfte von morgen bewegen, ist ein kommunaler und sicherer Arbeitsplatz noch nicht das wichtigste. Bei manchen dürfte die Einstellung vorherrschen: Wenn wir uns jetzt selbst verwirklichen wollen, gehen wir zu einem Unternehmen, das die aktuelle Corona-Krise positiv beeinflussen kann. Hier im mittelschwäbischen Bereich kann ich deshalb nicht von einem Standortvorteil sprechen; eher das Gegenteil ist der Fall.
Leroy: Beides ist wichtig. Wir versuchen jedoch nicht, mit dem Thema Gehalt zu punkten. Wir bezahlen zwar gut, sehen uns in Hamburg gleichwohl aber mit einer Industrie konfrontiert, die deutlich mehr bieten kann. Das, was wir also im Fokus haben – und das korreliert mit der Aussage von Herrn Merkel – ist die Frage, wie wir für potenzielle Bewerbende attraktiv sein können. Wir konzentrieren uns dabei vor allem auf das Thema Sinnhaftigkeit und die Bedeutung unserer Aufgaben. Auch wir stellen fest, dass die Menschen durchaus genau auf diese Aspekte achten und sich bewusst für eine sinnvolle Tätigkeit entscheiden. Unser Motto war immer: „Sorge dafür, dass es in Hamburg immer sauberes Wasser gibt.“ Und damit können wir definitiv stark punkten.
Zweitens aber schauen die Nachwuchskräfte, und da bin ich ganz bei Herrn Dehne, natürlich auch auf das Gesamtangebot. Das Gehalt ist da sehr wichtig; gleichzeitig können wir aber Karrieremöglichkeiten anbieten – auch, weil uns so viele Beschäftigte in den kommenden Jahren verlassen werden, darunter auch viele Führungskräfte. Es gibt deswegen sowohl bei den technisch-gewerblichen Berufen als auch bei den Büroarbeitsplätzen entsprechende Möglichkeiten zum Aufstieg.
Wir haben beispielsweise bei der Wasserversorgung in unserem eigenen Haus ein Programm ausgerollt, bei dem wir jüngere Beschäftigte nach dem Abschluss ihrer Ausbildung dazu ermutigen, anschließend die Weiterbildung zum Wassermeister zu machen. Das geschieht auch, weil wir wissen, dass ältere Mitarbeitende diesen Weg eher scheuen, während die jüngeren ihn noch machen, bevor sie z. B. Kinder bekommen. Wir haben derzeit zwar genug Wassermeister, können aber bereits heute antizipieren, dass das in fünf bis zehn Jahren anders sein wird. Und das greifen wir auf und versuchen, es zu fördern.
Gleichzeitig sind die weichen Themen, die Sie genannt haben, sehr wichtig und werden mitunter bereits zu „Hard Facts“, so etwa die Aspekte Flexibilität und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ich selbst führe dieses Interview coronabedingt aus dem Homeoffice, und gerade in der aktuellen Krise haben wir festgestellt, dass viele Tätigkeiten auch mobil ausgeführt werden können. Wir werden deshalb mobiles Arbeiten in Zukunft verstärkt anbieten, und tatsächlich greifen das viele auf – gerade jüngere Mitarbeitende, die eine Familie haben und sich über die höhere Flexibilität freuen.
Merkel: Lassen Sie mich nochmals zu den Ausführungen von Herrn Dehne zurückkommen, die mich stark berühren. Hier kann man sich fragen, ob das bereits eine bedrohliche Situation für die Wasserversorgung auf dem Land ist. Außerdem gilt: Eine Stadt wie Schwabmünchen mit 15.000 Einwohnern ist ja gar nicht so klein. Wir wissen alle, dass die Strukturierung in der Versorgungswirtschaft noch deutlich kleinere Unternehmen kennt, für die vermutlich noch verschärftere Rahmenbedingungen gelten. Wo ist für Sie, Herr Dehne, denn der Hoffnungsschimmer bzw. das Licht am Ende des Tunnels?
Dehne: Ich sehe darin tatsächlich ein existenzielles Problem. Wir sind mit unseren vier Mitarbeitern im handwerklich-technischen Bereich noch ein vergleichsweise großer Versorger. Wir haben aber aufgrund unserer Unternehmensgröße keine Spezialisten, sondern eher Generalisten. Bei uns muss jeder Beschäftigte ungefähr das gleiche können und jeder muss fast alles machen. Das bedeutet natürlich sehr viel Verantwortung – und das in einer Vergütungsgruppe, die in Anbetracht des erforderlichen Könnens und der Verantwortung aus meiner Sicht zu tief angesetzt ist.
Wenn wir das jetzt auf die ganz kleinen Versorger herunterbrechen, also z. B. Ein-Mann-Betriebe, die es nach wie vor zuhauf gibt und die die Wasserversorgung von Gemeinden bis 5.000 Einwohnern sicherstellen, dann müssen wir erst gar nicht über eine vernünftige Ablauforganisation, Vertretungsregelungen oder gar Work-Life-Balance reden. Solche Personen haben dauerhaft Bereitschaftsdienst und vermutlich Bauchschmerzen, wenn sie in den Urlaub gehen. Das sind Menschen, die für die Wasserversorgung leben, und damit bedient man in Bayern meiner Einschätzung nach mindestens 50 Prozent der Unternehmen.
Wie also können wir dieses Problem beheben? Ich bin der Auffassung, dass das nicht allein über Nachwuchsförderung geschehen kann. Bereits ich habe in meiner Tätigkeit kaum Zeit oder Gelegenheit, bei potenziellen Nachwuchskräften Werbung für mein Unternehmen zu machen, geschweige denn darüber zu reden, was wir gerne hätten.
Es gibt in vielen Kommunen Wasserwarte und Fachkräfte aus dem Installations- oder Elektrohandwerk, die seit 20 oder 30 Jahren dort beschäftigt sind und einen tollen Job machen – wenn diese Kollegen wegbrechen, kümmert kaum jemand rechtzeitig um Nachwuchs. Für die Kommunen bleibt dann meist nur die politische Maßnahme einer Kooperation in der Wasserversorgung mit Nachbargemeinden.
Zusammengefasst bedeutet das: Viele Wasserversorger, nicht nur in Bayern und Baden-Württemberg, können bereits in zehn bis 15 Jahren ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, weder nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik noch basierend auf Grundlagen des Arbeitsschutzes.
Wenn wir das Thema zehn Jahre in die Zukunft denken und uns die Frage stellen, welche Personen einen solchen Beruf unter diesen Bedingungen – sowohl im Hinblick auf die Bezahlung als auch auf die psychische wie physische Belastung – weiter fortführen, dann komme ich zu dem Ergebnis: Das geht nicht. Und damit steht meiner Ansicht nach eine Vielzahl der Wasserversorger in Deutschland auf der Kippe.
Leroy: Sie haben erklärt, dass die Situation bei Ihnen in Schwabmünchen ganz besonders ist, das leuchtet mir auch ein und das ist nicht vergleichbar mit der Situation, in der wir uns als großes Unternehmen befinden. Ich kann auch nur aus meiner Erfahrung berichten: Viele der Kommunen aus dem Hamburger Umland kommen genau aus den Gründen, die Sie nennen, Herr Dehne, auf uns zu. Da gibt es alle möglichen Wege der Kooperation, von der Übernahme der entsprechenden Aufgabe bis zur Aufteilung der Aufgaben.
Ich kann insofern auch nur sagen, dass es mir nicht zusteht, die Lage in Süddeutschland zu beurteilen, dazu bin ich zu weit weg. Aber wenn sich, so wie Sie es beschreiben, die politisch Verantwortlichen immer nur gegenseitig die Bälle zuspielen und die Augen vor der Realität nicht öffnen wollen, dann ist es für Sie zwar besonders schlimm, aber es wird nur helfen, wenn die Verantwortlichen mit dieser Realität konfrontiert werden.
Daran führt leider kein Weg vorbei, weil sich die Lage nicht von alleine verbessern wird. Es wird höchstwahrscheinlich niemand auftauchen, der Sie als „Weißer Ritter“ unterstützt und Ihre Probleme löst.
Merkel: Es ist offensichtlich, dass der DVGW keine aktiven Recruiting-Maßnahmen für seine Mitgliedsunternehmen durchführen kann. Und das ist vermutlich auch nicht die Erwartungshaltung. Aber wir als Verband können Aufmerksamkeit für das Thema generieren, vor allem bei denjenigen, die die Bedeutung des Themas immer noch nicht erkannt haben.
Wir bieten außerdem Möglichkeiten, die den Recruiting-Prozess unterstützen. Dazu gehört es auch, medienwirksam eine Öffentlichkeit für die Attraktivität und die Sinnhaftigkeit des Berufes zu schaffen. Zu diesem Zweck hat der DVGW schon vor geraumer Zeit zusammen mit dem BDEW und dem rbv das Portal www.berufswelten-energie-wasser.de auf den Weg gebracht.
Weiterhin sind in den letzten Jahren insgesamt 18 DVGW-Hochschulgruppen in ganz Deutschland gegründet worden, um dort das Interesse an den Themen der Versorgungindustrie zu wecken – und das gelingt uns auch ganz erfolgreich.
Viele Studierende verlieren zwar nach dem Ende ihres Studiums den Kontakt zu der Hochschulgruppe, aber genau deshalb geht es darum, einen ersten Berührungspunkt zu schaffen und so etwas wie eine langfristige Bindung zu erzeugen. Hier setzt das 2019 ins Leben gerufene DVGW-Young-Professional-Programm an, das eine gezielte Vernetzung von jungen Menschen mit unserer Branche herstellen soll.
Es kann natürlich auch sein, dass eine Absolventin oder Absolvent seine ersten beruflichen Schritte in der Erdölindustrie macht und danach zu einem Automobilzulieferer geht, um anschließend seine Berufung zu entdecken und in die Versorgungswirtschaft einzusteigen – beispielsweise in Hamburg oder auch in Schwabmünchen.
Der Podcast rund um das Recruiting und Human Resources in der Energie- und Wasserwirtschaft.
Leroy: Wir bei HAMBURG WASSER stellen tatsächlich eine kleine, spürbare Änderung fest: Wir erhalten zunehmend Bewerbungen aus Branchen, die infolge der Pandemie verstärkt leiden und dementsprechend Beschäftigte entlassen müssen. Zu nennen ist da die Luftfahrtbranche. Im handwerklichen Bereich hat die Corona-Welle allerdings bisher nichts bewirkt – im Gegenteil: Wir in Hamburg leiden immer noch stark darunter, dass die Baubranche extrem viele Fachkräfte vom Markt wegsaugt, Entspannung ist nicht in Sicht.
Erwähnenswert ist außerdem, dass die Bereitschaft, aus einem sicheren Job heraus den Arbeitsplatz zu wechseln, tatsächlich geringer geworden ist. Vor einem Jahr noch haben viele eher positiv darauf reagiert, im Moment verharrt eine große Zahl in einer abwartenden Haltung – obwohl wir natürlich auch ein sicherer Arbeitgeber sind. Aber wir alle kennen die Situation: Wenn ich wechsele, habe ich erstmal eine Probezeit, das spielt in Zeiten der Pandemie durchaus eine Rolle.
Dehne: Wir stellen im Fachkräftebereich auch keinen Effekt fest. Die Menschen hier haben nahezu alle feste Jobs und sehen keinen Anlass, ihn zu wechseln. Der zweite Punkt ist: Wenn wir Fachkräfte pandemiebedingt generieren wollen, dann müssten wir die z. B. aus dem rund 30 km entfernten Stadtgebiet Augsburg abwerben. Das ist uns aber bei einer angestrebten Einsatzzeit im Bereitschaftsdienst von maximal 30 Minuten zu weit weg.
Das heißt: Hier würde ich eine Fachkraft nur dann anwerben können, wenn ich ihr gleichzeitig etwas biete wie Wohnortwechsel oder Hilfe bei der Wohnungssuche. Und die Bereitschaft zum Umzug müsste vorhanden sein. Die Menschen in der Wasserversorgung sind aber bei uns in Bayern unheimlich geerdet und heimatverbunden, sie sind in der freiwilligen Feuerwehr oder im Musikverein des Ortes beschäftigt und aktiv. Die bekommt man nicht so einfach aus ihrer Ortschaft weggelockt.
Merkel: Ich würde die Pandemie in diesem Zusammenhang zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt (Anm. d. Red.: Ende August 2020) nicht überschätzen. Es mag gewisse Konstellationen geben, in denen die Effekte eine Rolle spielen, aber die demographische Gesamtsituation in Deutschland bleibt mittelfristig der bestimmende Faktor.
In Bezug auf die Qualifikation ist es so, dass Versorgungsunternehmen immer schon offen für Quereinsteiger aus anderen Berufen sind, auch fürs Anlernen in bestimmten Bereichen. Natürlich muss das Interesse im Grundsatz stimmen. Für die erforderliche Qualifizierung von Quereinsteigern hält die Berufliche Bildung des DVGW langjährig bewährte Qualifizierungsangebote vor.
Noch ein Aspekt zum Thema Migration: Da ist der Qualifizierungsbedarf durchaus auch ein Thema. Die Kollegen aus der Beruflichen Bildung sind auch da sehr aktiv, aber auch sehr offen für den einen oder anderen vertiefenden Vorschlag.
Leroy: Natürlich sind wir in Hamburg auch beim Thema Menschen mit Migrationshintergrund in einer anderen Situation als beispielsweise kleine Kommunen in Bayern. Für mich stellt sich die Frage, ob wir neue Kanäle öffnen können, um Menschen, die tatsächlich keine Jobs finden, auf andere Möglichkeiten aufmerksam zu machen und zu sagen: „Pass mal auf, bei Herrn Dehne in Schwabmünchen gibt es einen Job für Dich. Bist Du bereit, umzuziehen?“
Ich habe vorhin davon berichtet, dass wir tatsächlich junge Frauen für unsere technisch-gewerblichen Berufe gewinnen konnten. Zur Wahrheit gehört aber auch dazu, dass die Damen nicht aus Hamburg kommen, sondern z. B. aus Mecklenburg-Vorpommern. Warum? Unsere Recruiter haben bemerkt, dass es dort zu wenig Ausbildungsplätze gibt und sind aktiv geworden.
Merkel: Für mich sind zwei Schritte entscheidend: Wenn die Situation so ist, wie Udo Dehne sie beschrieben hat – und es gibt sicherlich auch in Baden-Württemberg, Teilen von Hessen und anderen Bundesländern Landkreise mit vergleichbarer Situation – dann betrifft sie den Fachkräftemarkt insgesamt. Hier wäre der erste Schritt, dass solche Initiativen von regionalen Industrie- und Handels- bzw. Handwerkskammern kommen müssten.
Und dann kommt der DVGW ins Spiel, indem er eine solche Initiative mit entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmen unterstützt. Aber das Thema Recruiting für nicht in der Versorgungswirtschaft ansässige, jetzt schon angekommene Fachkräfte anzugehen, und das in der ganzen Republik, für einen beliebigen Landkreis: das wird durch den DVGW und die anderen Verbände nicht zu leisten sein.
Dehne: Die Digitalisierung kann helfen, um Leute in unsere Nähe zu bekommen, die sonst nicht an uns denken. Wir müssen sicher auch zweigleisig fahren: Die Mitarbeiter im Unternehmen zum digitalen Produkt zu bewegen, das haben wir in sehr kurzer Zeit geschafft. Die Leute sind begeistert, niemand konnte sich vor Corona vorstellen, dass das so schnell geht.
Aber uns jetzt extern zu präsentieren, über digitale Medien neue Kanäle zu erschließen, dazu fehlt uns leider selbst das Drei-Mann-Team, über das Frau Leroy in Hamburg verfügt. Wir haben hier beim Thema Außenwirkung auch noch recht konservative Vorstellungen, die es zu erneuern gilt.
Merkel: Das Thema Digitalisierung bietet durchaus Möglichkeiten. Ich habe von Udo Dehne gelernt, dass es sein kleines Unternehmen zu Beginn der Pandemie in relativ kurzer Zeit mit erstaunlicher Geschwindigkeit geschafft hat, die wesentlichen Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Das ist großartig! Ich möchte aber auf den Punkt hinaus, dass wir in der Versorgungswirtschaft bei solchen Neuerungen vielleicht immer noch etwas zu zögerlich agieren.
Das trifft wahrscheinlich für die großen Unternehmen weniger zu, aber für die mittelständischen und die kleinen Wasserversorger kann ich das auch aus meiner IWW-Vergangenheit sagen. Mehr Offenheit und ein offensiver Umgang dient der Imagepflege und macht die Arbeitsplätze attraktiver (Anm. d. Red.: Dr. Wolf Merkel war von 2002 bis Februar 2020 technischer Geschäftsführer des IWW Zentrum Wasser).
Aus der konsequenten Nutzung digitaler Technologien ergeben sich darüber hinaus auch gewisse Erleichterungen: Ich denke da konkret an Bereitschaftsdienste, wenn dank digitaler Technik mitten in der Nacht eben nicht erst irgendwo hingefahren werden muss, um festzustellen, dass nur ein Sensor gestört ist. Ich glaube, dass sich damit so manche Hürde abbauen lässt.
Leroy: Da ist sicherlich auch noch Potenzial bei den großen Versorgern, Herr Merkel. Auch wir arbeiten daran, da immer noch besser zu werden.
Leroy: Da kann ich gerne auf das zurückgreifen, was wir eben diskutiert haben. In der Tat merken wir, dass die Kampagne gut ankommt. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass wir uns intern aufeinander einstellen, weil ja zwangsläufig ein größerer Wechsel innerhalb der Belegschaft stattfinden wird. Das ist kulturell auch nicht zu unterschätzen.
Wenn viele Mitarbeitende schon seit 15 oder 20 Jahren in den gleichen Teams zusammenarbeiten, dann verstärkt mehr in den Ruhestand gehen und jüngere dazukommen, müssen sich alle erstmal anpassen. Das Thema beschäftigt uns und wird uns in den kommenden Jahren auch weiter begleiten. Aber wir machen auch da sehr positive Erfahrungen, weil es am Ende mit den Menschen zusammenhängt: Man muss nur diejenigen zusammenbringen, die von der Chemie her gut zusammenpassen. Und dann läuft‘s.
Merkel: Ich würde als erstes sagen: Lass uns doch die Treppe nehmen und nicht den Aufzug. Und dann würde ich sagen: Für sicheres Trinkwasser zu arbeiten und die Energieversorgung nachhaltig umzubauen, ist eine erfüllende Lebensaufgabe und ein anspruchsvolles Berufsziel. Die Energie- und Wasserversorgung ist krisensicher und systemrelevant und wir können für eine Vielzahl von Menschen etwas bewirken.
Leroy: Die Arbeit bei HAMBURG WASSER ist die sinnvollste überhaupt. Wir arbeiten Tag für Tag dafür, dass wir das Wasser und die Umwelt schützen und natürlich arbeiten wir vor allem für die Menschen, die hier in Hamburg leben.
Dehne: Wir bieten unseren Bewerbern ein total tolles Arbeitsumfeld in einem lebensnotwendigen Beruf, dazu einen sicheren Arbeitsplatz im Rahmen der Stadtverwaltung. Wir sind ein Superteam, sorgen uns Tag für Tag um das Trinkwasser für 15.000 Menschen, die in bester Qualität ihr Wasser von uns bekommen und sich hundertprozentig auf uns verlassen können.